Die Pflegetochter

Von Felix Feigenwinter

Die Aufnahme der kleinen Waise aus einem fernen Land, wo Menschen an Bäumen und Baukränen aufgehängt wurden, behagte ihm nicht. Seiner Frau zuliebe gewährte er dem Kind Zuflucht in seinem Haus; Angela wollte Mutter werden, was ihr die Natur verwehrte. „Das Mädchen erleidet einen Kulturschock, es wird uns immer fremd bleiben“, dämpfte er ihre Zuversicht, noch bevor das Flüchtlingskind eingezogen war. Angela liess sich nicht beirren. Die Beantwortung der Frage: „Warum haben die Menschen Augen?“ delegierte sie an ihn, den Optiker; seiner Erklärung „Damit wir sehen können“ widersprach das Mädchen: „Nein – damit die Menschen weinen können“.

Angela war entschlossen, der Pflegetochter die neue Heimat vertraut zu machen und sie vor weiteren Grausamkeiten des Lebens zu schützen. Sie führte sie in den Rathaushof und auf Kinderspielplätze, spazierte mit ihr zum Tierpark und durch Museen, und sie freute sich darauf, im Herbst gemeinsam den Jahrmarkt zu erleben. Zusammen fuhren sie Karussell, besuchten eine Riesin und einen Zauberzwerg in deren Schaubude, sie schleckten Zuckerwatte; doch plötzlich standen sie vor schauerlichen Figuren: über dem Eingang der Geisterbahn baumelten Menschenskelette und blutig gefärbte Leichen, die sich im kalten Herbstwind rhythmisch bewegten – ein makaberer Tanz mitten im fröhlichen Jahrmarkttreiben.  Fassungslos starrte das Mädchen auf die Pappfiguren, begann zu weinen, fürchterlich zu schluchzen. Zu Hause verkroch es sich ins Kinderzimmer und erschien nicht zum Abendessen, als Angela es rief.

„Es hatte ein schlimmes Erlebnis, an einem Galgen vor der Geisterbahn sah es Tote hängen“, erklärte Angela ihrem Mann. Dieser meinte kopfschüttelnd: „Ich habe dich gewarnt – deine Pflegetochter ist traumatisiert!“, und er begann, ungeduldig die Suppe zu löffeln.

Viele Jahre später – Angela war inzwischen erblindet und längst geschieden –  besuchte die Pflegetochter mit ihren zwei Kindern die Pflegemutter in deren Sozialwohnung. „Schade, was würde wohl Papi sagen, wenn er meine beiden Enkelkinder sehen könnte?“, meinte die blinde Angela, aber die Pflegetochter widersprach: „Er ist nicht mein Papi, und er hat sich auch Dir gegenüber lieblos verhalten, schon vor der Scheidung. Er ist ein leerer Mensch.“ – „Vielleicht ist er schon tot“, sinnierte Angela; „seit unserer Scheidung habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

Über felixfeigenwinter

Zur Welt kam ich am 14. Dezember 1939 in Pratteln/Baselland (Schweiz). Die Herkunft meines Vaters, eines Lehrersohns, ist ländlich und katholisch-konservativ. Meine Mutter, eine geborene Lichtenhahn (ursprünglich Liechtenhain) stammt aus einer alten Stadtbasler Bürgerfamilie mit protestantischem Hintergrund, deren Vorfahren im 16. Jahrhundert aus Leipzig nach Basel kamen. Der Name Feigenwinter (ursprünglich Fegenwinter) stammt aus dem basel-landschaftlichen Reinach und bezeichnete im Mittelalter die Person, die am Sonntag nach Ascher-mittwoch das Fasnachtsfeuer im Birseck anzündete, um die Winter-dämonen zu vertreiben.

Veröffentlicht am Juli 9, 2012 in Geschichten vom Totentanz, LITERATUR und mit , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. Hinterlasse einen Kommentar.

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