Das Konzert der Barfüsser

Von Felix Feigenwinter

Unter offenem Himmel liebkosen barfüssige Sänger in zerfledderten Kleidern ihre Musikinstrumente; rauhe, zärtliche Stimmen bejubeln die rhythmischen Klänge und verzaubern einen Platz, an dessen Rand sich Samstagsnachmittagskonsumenten in Freizeitbekleidung auf hohen Stühlen in einem Strassencafé räkeln. Obwohl es Herbst ist, Mitte Oktober, bestrahlt sommerliches Licht die gotische Fassade der Barfüßerkirche, die jetzt ein Museum beherbergt, wo das Gebein keltischer Ureinwohner zu besichtigen ist. Valentin hat die exotische Gruppe durchs Tramfenster entdeckt. Er war unterwegs zum ziemlich öden Vorstadtquartier, wo er wohnt, bepackt mit einer Einkaufstasche eines Supermarktes, und er stieg hastig aus. Jetzt versteckt er sich zwischen den Cafégästen, die den Straßenmusikern blasiert applaudieren und ein wenig Geld locker machen. Gebannt lauscht er der fremdländischen Musik, die so leidenschaftlich an seine Seele pocht, dass sie zu zerbersten droht. Gegenüber, hinter den Musikern, auf der breiten Steintreppe, die zur Kirche führt, feiert ein jüngeres Publikum den ekstatischen Jubel, sich versonnen im Rhythmus wiegend – ein bewegter bunter Haufen. Mitten drin sieht er eine Frau – sie lächelt und winkt ihm zu. Valentin grüßt zurück, gar zart, geradezu scheu, ja greisenhaft verklärt, wie ihn selber dünkt.

Eine Stunde mag er andächtig gehorcht haben. Wieder und wieder sucht sein versunkener Blick die Zauberin – vergeblich. Unbemerkt muss sie aufgestanden, weitergezogen sein. Das Sonnenlicht weicht von der Kirchenfassade, das Himmelsgewölbe erblasst; die Musik der Barfüsser ist verstummt. Ein Schwarm Vögel flattert über den verlassenen Platz und verliert sich auf den Dächern. Valentin stellt sich vor, Tauben würden von einem Turmfalken gejagt. Er fröstelt, will aufstehen, doch Schmerzen lassen ihn zurücksinken. Seit Wochen plagen ihn rheumatische Anfälle. Arbeitskollegen empfahlen ihm, einen Arzt aufzusuchen, aber die Anmeldung hat er immer wieder aufgeschoben. An seinem Arbeitsplatz im Büro hängt ein bebilderter Zeitungsausschnitt mit der Überschrift: „Entspannungsübungen: Unauffälliges Turnen im Büro.“ Ächzend schleppt er sich und die Einkaufstasche zur Haltestelle. Die Arthritis brennt und sticht, aber er denkt: Lieber spüre ich sie, als dass ich mich von Tabletten betäuben lasse! Die Melodien der Straßenmusiker klingen in ihm nach, berauschen immer noch seine Sinne. „Der Schmerz ist meine zuverlässige Geliebte“, summt er, halb verzückt, halb verzweifelt improvisierend. Die eisigen Blicke eines Ehepaars lassen ihn jäh verstummen, das Lied droht in der Kälte zu erstarren. Auf der Traminsel stößt er mit einer gehbehinderten Frau zusammen, der er, humpelnd auch er, nicht rechtzeitig ausweichen kann. Valentin verbeugt sich ungelenk, stammelt eine Entschuldigung. „Ach was“, krächzt die Greisin und klopft ihm mit ihrem Stock gegen den Bauch, „so spüre ich mich wenigstens, weiß ich, dass ich noch lebe.“

Das Tram fährt vor. Mit leidender Miene müht sich Valentin hinein, lässt sich auf einen Sitz fallen. Bewegungslos würde er sich durch die Strassen flitzen lassen, immer wieder neue Passagiere würden zusteigen, alte würden ihn verlassen, und staunend würde er von Endstation zu Endstation sausen bis tief in die Nacht hinein… das könnte interessanter werden als ein Fernsehfilm! Aber es ist Herbst, und das Rheuma erheischt Pflege; das Übernachten im Tramdepot kann kein Ziel sein. Die Barfüßer steigen ein und eröffnen einen musikalischen Wirbel. Valentin zieht Schuhe und Socken aus, die Schmerzen scheinen verflogen. Seine nackten Füße klatschen auf den platten Boden, der Körper zuckt besessen zu den wilden Rhythmen der Fremden, die des Tanzenden Ekstase lachend, singend und schreiend begleiten.

Wie lange das gespenstische Treiben im Tramanhänger währte, ist ungewiss. Der Tramführer jedenfalls will nichts bemerkt haben. Sicher ist nur, dass er nach Mitternacht, als er im Depot nach Abschluss der Fahrt im Spätdienst einen letzten Kontrollgang durchführte, den Mann im Anhänger am Boden liegend fand. Der Tod sei durch Herzinfarkt eingetreten, hielt später der Arzt fest, der die Leiche im gerichtmedizinischen Institut obduzierte. Über den Freudentaumel stand nichts im medizinischen Bericht.

Besuch beim Geier

Von Felix Feigenwinter

An einer Schnur, die von der kleinen Hand eines Mädchens gehalten wurde, schaukelte ein gelber Luftballon, der an eine Banane erinnerte, jedoch die Mondsichel darstellte. Der Ballon war mit dunkelblauen Sternchen dekoriert. Er schwebte zwischen den Köpfen der Gäste und dem immer noch grünen Laub der Bäume, die das Boulevardcafé säumten. Eine dunkle Wolkendecke überzog den Himmel, aber es regnete nicht.

Die Mutter des Kindes, das den Ballon hielt, sprach mit einer anderen jungen Frau; beide Frauen waren Florian vertraut. Nach einem langen Spitalaufenthalt trank er zum erstenmal ausserhalb der Klinik als Rekonvaleszent einen Espresso in der Stadt. Während der vergangenen Tage und Nächte hatten ihn diese Frauen im Krankenhaus betreut, seine Operationsschmerzen mit tröstenden Bemerkungen, liebevollen Berührungen und der Verabreichung heilender Pillen und Spritzen besänftigt. Als Florian gestern morgen das Spital verlassen musste, fühlte er sich traurig gestimmt. Beim Abschied hatte er sich für die erwiesene Hilfe herzlich bedankt, doch als sich eine der Pflegerinnen nach seinem Befinden erkundigte, verschwieg er seinen Schmerz.

Nun erhoben sich die beiden, die er von seinem Spitalaufenthalt kannte und die hier ihre Freizeit verbrachten, um mit dem Kind und dem gelben Ballon das Boulevardcafé zu verlassen. Florian winkte, aber die Frauen schienen ihn nicht zu erkennen, was ihn nicht erstaunte, da er mit Mütze, Brille und Mantel gewiss anders aussah als die hilflos im Spitalbett liegende Kreatur. Die Pflegerinnen hatten ihn als schwer Verwundeten nackt oder ins bleiche Spitalhemd gehüllt in Erinnerung; der gewöhnlich verkleidete, Espresso schlürfende ältliche Herr im Boulevardcafé musste ihnen fremd erscheinen.

Obwohl er sich immer noch verletzt und schwach fühlte, spazierte er am späten Nachmittag vorsichtig durch den zoologischen Garten. Vor dem Gehege, in dem seit vielen Jahren ein Bartgeier gefangen war, verweilte er länger als gewöhnlich, nachdem ihn dieser grosse Vogel zum erstenmal, seit er ihn besuchte, begrüsst hatte, gezielt auf ihn zuschritt und wenige Meter vor ihm verharrte, um ihn aufmerksam zu mustern. Andächtig bewunderte der gegen das Versiegen seiner Lebenskraft kämpfende Florian das Gefieder des gefangenen Tiers, versuchte dem auf ihn konzentrierten und, wie ihm schien, nicht nur gierigen Blick zu widerstehen. Bevor er endlich weiterging, verbeugte er sich ehrfurchtsvoll. Der Aasfresser erwiderte die Geste tänzelnd, mit heftigem Flügelschlagen.

( November 2006)

Ein Träumer

Von Felix Feigenwinter

Seine Eltern hatten ihn über die grüne Grenze aus dem Kriegsland gerettet, auf der Flucht vor den Mördern ihrer eigenen Eltern. In der neuen Heimat wurde der Friedenstraum mit Glockengeläut und stolz gehissten blutroten Fahnen gefeiert, auf denen schneeweisse Kreuze ohne Haken prangten. Die Fahnen flatterten im wonnigen Frühlingswind.

Seine Überlebensgeschichte anvertraute er mir zwanzig Jahre danach in der unversehrten Gemütlichkeit einer Gaststube, deren Wandgemälde die Schrecken zweier Weltkriege überstanden hatten; später wichen die dunkelfarbigen Bilder aus einer versunkenen Zeit einem unverbindlich-heiteren Design.

Im renovierten Restaurant konnte ich ihn nur dreimal erleben. Das erste Mal bemerkte ich, wie er in der Begleitung einer älteren Dame das Lokal betrat, die für ihn, als sei er blind, die Glastür aufstiess und hielt. Er hatte mich nicht gesehen, und ich liess die beiden ungestört; die Dame hielt ich für seine Mutter.

Das zweite Mal, an einem sonnigen späten Nachmittag, sass ich draussen vor dem Restaurant. Er verhielt sich wie ein Schlafwandler, setzte sich zu mir und bestellte ein Frühstück; die Kellnerin hielt ihn für einen Witzbold, denn der Tag war wie gesagt nicht mehr jung, und Frühstück gab’s nur morgens bis elf Uhr. Aber mein Bekannter, der als Filmkritiker arbeitete, meinte es ernst; er hatte in der Nacht einen Bericht für eine Zeitung geschrieben und anschliessend bis in den Nachmittag hinein geschlafen. Als er erwachte, glaubte er, es sei noch Morgen.

Das dritte Mal erwartete ich ihn an einem regnerischen, gewitterigen Spätsommermorgen in der renovierten Gaststube. Als er eintreten wollte, übersah er die Glastür, in die er stolpernd fiel, sie unabsichtlich zertrümmernd; blutüberströmt lag er nun im Scherbenhaufen. Schon abends starb er dann unerwartet – viel zu jung! – in der Klinik, in deren Notfallstation man ihn operiert und verbunden hatte.

Seine Gabe, am heiterhellen Tag mit offenen Augen zu träumen, hatte uns verbunden. Seine Fähigkeit, unsichtbare Grenzen zu durchbrechen, kostete ihn das Leben.

Die Pflegetochter

Von Felix Feigenwinter

Die Aufnahme der kleinen Waise aus einem fernen Land, wo Menschen an Bäumen und Baukränen aufgehängt wurden, behagte ihm nicht. Seiner Frau zuliebe gewährte er dem Kind Zuflucht in seinem Haus; Angela wollte Mutter werden, was ihr die Natur verwehrte. „Das Mädchen erleidet einen Kulturschock, es wird uns immer fremd bleiben“, dämpfte er ihre Zuversicht, noch bevor das Flüchtlingskind eingezogen war. Angela liess sich nicht beirren. Die Beantwortung der Frage: „Warum haben die Menschen Augen?“ delegierte sie an ihn, den Optiker; seiner Erklärung „Damit wir sehen können“ widersprach das Mädchen: „Nein – damit die Menschen weinen können“.

Angela war entschlossen, der Pflegetochter die neue Heimat vertraut zu machen und sie vor weiteren Grausamkeiten des Lebens zu schützen. Sie führte sie in den Rathaushof und auf Kinderspielplätze, spazierte mit ihr zum Tierpark und durch Museen, und sie freute sich darauf, im Herbst gemeinsam den Jahrmarkt zu erleben. Zusammen fuhren sie Karussell, besuchten eine Riesin und einen Zauberzwerg in deren Schaubude, sie schleckten Zuckerwatte; doch plötzlich standen sie vor schauerlichen Figuren: über dem Eingang der Geisterbahn baumelten Menschenskelette und blutig gefärbte Leichen, die sich im kalten Herbstwind rhythmisch bewegten – ein makaberer Tanz mitten im fröhlichen Jahrmarkttreiben.  Fassungslos starrte das Mädchen auf die Pappfiguren, begann zu weinen, fürchterlich zu schluchzen. Zu Hause verkroch es sich ins Kinderzimmer und erschien nicht zum Abendessen, als Angela es rief.

„Es hatte ein schlimmes Erlebnis, an einem Galgen vor der Geisterbahn sah es Tote hängen“, erklärte Angela ihrem Mann. Dieser meinte kopfschüttelnd: „Ich habe dich gewarnt – deine Pflegetochter ist traumatisiert!“, und er begann, ungeduldig die Suppe zu löffeln.

Viele Jahre später – Angela war inzwischen erblindet und längst geschieden –  besuchte die Pflegetochter mit ihren zwei Kindern die Pflegemutter in deren Sozialwohnung. „Schade, was würde wohl Papi sagen, wenn er meine beiden Enkelkinder sehen könnte?“, meinte die blinde Angela, aber die Pflegetochter widersprach: „Er ist nicht mein Papi, und er hat sich auch Dir gegenüber lieblos verhalten, schon vor der Scheidung. Er ist ein leerer Mensch.“ – „Vielleicht ist er schon tot“, sinnierte Angela; „seit unserer Scheidung habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

Stäubli

Von Felix Feigenwinter

Eigentlich wollte sich Ferdinand Hofer so früh als möglich in seine Wohnung zurückziehen, nachdem er in der letzten Nacht bis zum Morgengrauen durchgearbeitet und anschliessend wegen einer Fahrt aufs Land, wo Überschwemmungsschäden zu besichtigen waren, nur kurz geschlafen hatte. Die nächtliche Berichterstattung über eine Presseführung durch die Drogenszene liess ein dumpfes Gefühl zurück. Seinen Zeitungsartikel hatte er am frühen Morgen während der Reise durch die wassergeschädigte Landschaft noch einmal überflogen – er verabscheute diesen Text. Er hatte versucht, Anarchie aus dem Blickwinkel rechtsstaatlichen Bewusstseins darzustellen, den Dschungel der Drogenhölle zu rationalisieren. Das Elend der Drogenkranken, das ungehinderte Auftreten ihrer Giftzulieferer überführte die  Imagepflege der Stadt ins Groteske. Hofer hatte sich eines radikalen Kommentars enthalten, und nun ekelte ihn die Scheinheiligkeit, der er sich resigniert unterworfen hatte. Zwischen anderen Feierabendverkehrern wartete er aufs Tram, als ein neues Gewitter krachend und prasselnd auf die Menge niederschlug. Da er nicht unter dem schützenden Dach der Haltestelle Platz gefunden hatte und der sehnlichst erwartete Tramzug immer noch nicht erschien, flüchtete er hemdsärmlig zum nächsten möglichen Unterstand – in die Bar gegenüber.

Den eher kleinen, ein wenig dicklichen Mann im bräunlichen Anzug hatte er vorerst nicht bemerkt, und nachdem er ihn in der Spiegelwand hinter der Theke endlich flüchtig gesehen hatte, interessierte er ihn immer noch nicht, so unscheinbar wirkte er zwischen den anderen Barbesuchern, wie ein Mensch, der Ansprüche an andere zu stellen sich abgewöhnt und mit dieser Bescheidenheit diskret umzugehen gelernt hat. Erst, nachdem er gebeten hatte, zahlen zu dürfen, stutzte Hofer. Er ertappte sich bei der Erwartung, der von ihm als konventionell eingeschätzte Gast würde nun ein ordentliches Portemonnaie hervorziehen und etwas umständlich und pedantisch das verlangte Geld hinblättern; in Wirklichkeit griff dieser, nachdem Heidi, die Bardame, den Preis der konsumierten Getränke genannt hatte, mit fahriger Bewegung in die Kitteltasche, um einige Münzen zwischen zerknüllten Geldscheinen zum Vorschein zu bringen; diese ganze Barschaft legte er wie ein kleines Kind, das noch nicht rechnen gelernt hat, auf die Theke, um das Zählen Heidi zu überlassen, die dieser Aufgabe beflissen nachkam. Eine der übriggebliebenen Noten schob er dann wie nebenbei – und auch ein wenig verschämt, wie Hofer schien – als grosszügiges Trinkgeld zu Heidi hin; das restliche Geld stopfte er zerstreut in die Kitteltasche zurück. Hofers oberflächliches Vorurteil über diesen Mann war damit zerstört. Der kleinbürgerliche Buchhalter (so etwa hatte er ihn vorerst spontan, aber wenig differenziert eingeschätzt) oder buchhalterische Kleinbürger zeigte beträchtliche Verwahrlosungserscheinungen. Schlapp und ausgebrannt, zu einer klärenden Verhaltensanalyse momentan unfähig fühlte sich Hofer, der einst Vorlesungen über Psychologie und Soziologie besucht hatte, ohne das Studium abzuschliessen, bevor er sich dem Journalismus hingab; statt psychologische Rätsel zu lösen sehnte er sich jetzt nach einem entspannenden Schaumbad bei sich zu Hause mit anschliessendem störungsfreiem Tiefschlaf.

Doch der Kunde neben ihm hatte noch andere Überraschungen im Sinn. Nachdem er vom Barstuhl gerutscht war, den er sorgfältig und ein wenig linkisch zur Theke schob, verabschiedete er sich artig. Dabei musterte er Hofer kurz, und dieser sah ihm zum erstenmal an diesem Abend direkt ins Gesicht. Nun nahm er die Spaltung der Oberlippe wahr, ein Merkmal dieser Physiognomie, das Hofer nicht bemerkt, als er den Fremdling in der von Flaschen verstellten Spiegelwand hinter der Theke betrachtet hatte. Der kleine Mann wollte sich offenbar schon dem Ausgang zuwenden, als er innehielt und den Journalisten wie verwundert ansah. Hatte ihn dessen Beobachtung gestört, fühlte er sich verletzt? Er beäugte Hofer nun aufmerksam, was diesen ebenso erstaunte wie verwirrte, denn er hielt den Fremden für einen eher schüchternen Menschen, und dieser sagte nun leise, aber bestimmt: „Wir kennen uns, nicht wahr.“ – „Nein“, murmelte Hofer ironisch, „woher denn?“ Er konnte sich gut vorstellen, woher, war er doch als Journalist gewissermassen eine öffentliche Person, und seit Jahren erschienen viele seiner Interviews, Reportagen und Kommentare (überflüssigerweise, wie er schon lange fand) mit seinem Porträtbild.  Dass der Unbekannte nun seinen Namen nannte, schien seine Befürchtung zu bestätigen, und er antwortete arroganter, als er beabsichtigt hatte: „Sie sind wohl ein eifriger Zeitungsleser?“ – „Das auch“, bestätigte der ungebetene Gesprächspartner gelassen; er schien Hofers mürrische Reserviertheit nicht wahrzunehmen oder ignorierte sie, weil sie nicht in sein Konzept passte; „ich habe deine Artikel von Anfang an mit Interesse verfolgt!“ Nun begann er ihn also noch ungefragt zu duzen; aus der Sicht eines wenn auch inzwischen etwas korrumpierten, ja vielleicht versnobten sogenannten Achtundsechzigers, für den viele, vor allem Nichtachtundsechziger, Hofer immer noch hielten, natürlich kein Faux-pas. Seit Ende der Sechzigerjahre hatten sich die Umgangsformen zumindest in gewissen Kreisen gelockert, aber der Mann (Hofer beharrte vorläufig darauf: ein Kleinbürger, wenngleich vielleicht ein angeknackster) sah nicht danach aus, als ob er vor Jahren Tramschienen besetzt oder Professoren mit schrillen Parolen erschreckt habe; Hofer konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich dieser Mensch auf dem Gelände, wo ein Atomkraftwerk hätte erbaut werden sollen, von Polizisten hätte wegtragen lassen. Der Barbesucher mit der enggeknüpften, gräulichen Krawatte wirkte auf  Hofer nach wie vor ängstlich-konventionell, den Starken und Mächtigen Ehrfurcht und zumindest heimliche Bewunderung zollend (weiss der Teufel warum, die Krawatte allein konnte es doch kaum sein!). Wahrscheinlich hatte dieser brave Mann einfach zuviel getrunken, dachte Hofer; das enthemmte ihn. „Wir sind miteinander zur Schule gegangen, ins Gymnasium!“ verriet nun aber Klaus Stäubli – so hiess die Barbekanntschaft, wie Hofer sogleich erfuhr, nachdem er selber bisher keine Zeichen des Wiedererkennens hatte signalisieren können.

Nebulöse Bilder stiegen in ihm auf. Dann und wann begegnete er beim Gang durch die Stadt oder an Pressekonferenzen den vertrauten und doch schon verzerrten Gesichtszügen ehemaliger Schulkameraden, die ihren privilegierten Bildungswegen entsprechend zu gesellschaftlichen Schlüsselfiguren mutiert waren, indem sie nun Machtpositionen in der Welt der Wirtschaft, der Politik, der Kultur einnahmen. Sie präsidierten Verwaltungsratssitzungen, erschienen überlebensgross als Regierungs- oder Nationalratskandidaten auf Plakatwänden, hielten Vorlesungen in der Universität oder veranstalteten internationale Ausstellungen oder Kongresse. Klaus Stäubli gehörte offensichtlich nicht zu dieser Elite; Hofer hatte Mühe, ihn zu identifizieren.

Nur verschwommen erinnerte er sich schliesslich an einen kleinen, etwas verschupften Buben mit einer Hasenscharte in der ersten oder zweiten Gymnasialklasse, was seine bisherige Abwehrhaltung in gerührte Anteilnahme umschlagen liess.  „Das müssen wir feiern!“ rief er aus, und er bat Stäubli, sich wieder auf den Barstuhl zu hissen, „ich kann mich jetzt tatsächlich entsinnen! Das war in der Unterstufe; nachher warst du nicht mehr in unserer Klasse?“ Seine Müdigkeit schien plötzlich verflogen. Flugs hatte Heidi eine Flasche Weissen im Kühlbehälter und zwei frische Gläser hervorgezaubert, die sie behänd füllte. Hofer stiess sein Glas übermütig an Stäublis Glas („auf ein langes Leben!“), der aber setzte, nachdem er den ersten Schluck genehmigt hatte, eine eher grüblerische Miene auf. „Ich verliess das Gymnasium nach der vierten Klasse“, berichtete er, „ich hatte schlechte Noten. Meine Mutter, die als alleinstehende Putzfrau kein grosses Einkommen hatte, fand es vernünftig, mich in eine Verwaltungslehre zu stecken. Noch während der Lehre starb meine Mutter an Krebs, und nach dem Lehrabschluss fand ich eine Anstellung im Grundbuchamt. Noch heute arbeite ich dort. Im Gegensatz zu dir bin ich nur eine ganz gewöhnliche Arbeitsbiene, eine winzige Ameise in einem riesigen Haufen, nicht wahr.“ – „Das bin ich doch auch!“ behauptete Hofer. „Jeder ist das letztlich…“ –  „Nein, nein“ protestierte Stäubli, „du gehörst zu den Prominenten. Die ganze Stadt kennt dich, weil dein Bild und dein Name fast täglich in der Zeitung erscheinen, nicht wahr. Du bist etwas Besonderes, kein gewöhnlicher Sterblicher. Du hast Privilegien. Und Macht! Deine Zeitungsartikel beeindrucken und beeinflussen Tausende von Menschen!“ –  „Nun gut“ gab Hofer zu, „gewisse Privilegien haben Journalisten schon, angefangen von den Einladungen zu Banketten bis zu den Gratisflügen. Den täglichen Umgang mit Prominenten, mit wirklichen Prominenten – nicht mit Journalistenkollegen – kann man natürlich auch als Privileg betrachten. Nur: wirtschaftlich profitiere ich nicht davon. Meine Honorare als freier Journalist werden, schätze ich, summa summarum kaum grösser sein als dein gesichertes Beamteneinkommen. Ich habe keine bezahlten Ferien etcetera. Ich hätte es anders haben können: meine feste Anstellung als Redaktor habe ich freiwillig aufgegeben. Als freier Journalist fühle ich mich unabhängiger; das Diktat der Verlegerinteressen und der Grossinserenten bekomme ich weniger direkt zu spüren. Im Grunde genommen bin ich ein Bohemien. Ich lebe gewissermassen von der Hand in den Mund. Freiheit ist mir wichtiger als Sicherheit.“ –  „Bohemien zu sein ist auch eine Art Luxus, ein Privileg“ erwiderte Klaus, „besonders, wenn es mit soviel Prestige verbunden ist, nicht wahr.“ – „Wie recht du hast“ beschwichtigte Hofer, „aber nicht jeder würde sich in meiner Haut wohlfühlen, stelle ich mir vor. Würdest du es?“ – „Ich weiss nicht. Es ist für mich eigentlich unvorstellbar. Obwohl ich früher auch schöpferische Ambitionen hatte und von einem unabhängigen Leben träumte.“ Klaus schaute sich ängstlich um, als ob er sich vergewissern wollte, ob niemand anderer zuhöre, und  flüsterte: „Als junger Mensch wollte ich Kunstmaler werden! Ich habe eine ganze Reihe von Bildern gemalt, in meiner Freizeit.“ Hofer versuchte, sich Stäublis diskretem Ton anzupassen. „Also bist du ein getarnter Künstler? Hast du deine Bilder schon ausgestellt? In welcher Galerie?“ Klaus schien zu erröten (aber vielleicht bildete es sich Hofer nur ein. Vielleicht glühte das Gesicht wegen des Weinkonsums.) „Nein“ sagte er, „nein. Das ist eine Geschichte für sich.“ –  „Erzähle!“ insistierte der Journalist. Und nun erzählte der Sachbearbeiter aus dem Grundbuchamt eine dramatische Geschichte; Hofer kam aus dem Staunen nicht heraus. „Das ist fatal!“ rief er aus, „und du behauptest, du seist  eine hundsgewöhnliche Ameise?! Ich kenne deine Gemälde zwar nicht. Aber was du mir da erzählst, ist aussergewöhnlich und tragisch! Ich hoffe, du malst trotzdem weiter, lässt dich vom Schicksal nicht kleinkriegen?“ – „Ich kann nicht mehr malen!“ seufzte Stäubli. „Nachdem meine Bilder verbrannt sind, war ich wie gelähmt. Seither hat mich die Muse nie mehr geküsst. Das Feuer hat sie sozusagen verscheucht…“ Und nach einer Weile bedrückten Sinnierens meinte der verhinderte Kunstmaler zu Hofer: „Du bist ein Schreiber, das ist dein Beruf. Es wäre schön, wenn du mir meine Geschichte aufschreiben könntest. Würdest du das für mich tun?“ – „Oh, ich bin kein Schriftsteller“ wehrte Hofer ab, „nur ein gehetzter und mittlerweile auch etwas ausgelaugter Journalist. Obwohl mich deine Geschichte bewegt, weiss ich nicht, ob ich sie so schreiben könnte, wie es dir und deinem Schicksal angemessen wäre. Es würde vielleicht eine Art Reportage daraus.“ –  „Bitte“ bettelte Klaus, „mir zuliebe. Ich würde diese Arbeit bezahlen. Wieviel verlangst du? Zweihundert Franken, dreihundert? Mit meinem relativ bescheidenen Sacharbeiterlohn und den sozialen Verpflichtungen, die ich ja auch habe, sind mir leider Limiten gesetzt, nicht wahr. Dreihundert Franken? Ginge das?“ –  „Mich reizt die Aufgabe“ gab Hofer zu, „aber wenn schon, würde ich es für dich natürlich gratis schreiben. Vielleicht kann ich den Text gelegentlich ja irgendwo veröffentlichen. Dann würden wir das Honorar teilen, uns einen gemütlichen Saufabend leisten. Doch, ich möchte es versuchen. Aktuell ist der Stoff ja nicht gerade. Wann war dieser Brand?“ – „Vor acht Jahren.“ – „Eben. Ein historisches Ereignis, kein aktuelles.“

Nun verstummte Klaus. Er starrte schweigend vor sich hin. Hofer hielt es für ratsam, den Abend zu beschliessen. Als sie aus der Bar aufs Trottoir traten, glänzte der Asphalt vom Gewitter; die Nacht war angebrochen, und es war fast kühl, regnete aber nicht mehr. Sie vereinbarten, sich in einer Woche wieder hier zu treffen, und Hofer stellte in Aussicht, ein Typoskript mit der Geschichte über den Brand von Stäublis Bildern mitzubringen. Bevor sie in verschiedene Richtungen wankten, umarmten sie sich wie zwei alte Freunde.

***

Frivol flatterten entlang der Brücke bunte Fahnen zum Zeichen eines festlichen Ereignisses im ungetrübten Sonnenlicht, die Temperatur hatte dreissig Grad Celsius längst überschritten, und im Fluss trieb ein blendend weisses Schiff mit ausgelassen tanzenden Menschen in wehenden Schönwetterkleidern. Jauchzende Stimmen drangen ans Ufer.

Zwischen dem Kellner, der Hofer das kühlende Getränk aufs gelbe Plastiktischchen stellte, und den sich im Boulevardbistro entspannenden Gästen wollte indes kein lockeres Gespräch entstehen. Hofers Vorhaben: Sich in hochsommerlicher, heiterer Atmosphäre in die herbstliche Seelenlage eines introvertierten Antihelden und Pechvogels zu vertiefen, seine Zufallsbegegnung mit Klaus Stäubli für die Darstellung von dessen Erzählung über das Ende der Laufbahn als Kunstmaler zu nützen. Welch` wahnwitzige Aufgabe! Sie versetzte den Journalisten in Aufregung und Abenteuerlust, in anfängerhaftes Lampenfieber, wie es ihn in den letzten Jahren seiner journalistischen Routinetätigkeit nie mehr erfasst hatte. Dabei war sein „Auftraggeber“ kein grimmiger Chefredaktor, sondern ein ohnmächtiges Büromännchen und Träumerchen, und es war kaum damit zu rechnen, dass der Text, den zu schreiben er ihm versprochen hatte, bei bedeutenden Lesern Beachtung finden würde. Von der fehlenden Aussicht auf eine finanzielle Entlöhnung ganz zu schweigen.

Zu seiner Überraschung machte es ihm allerdings keine Mühe, die Erzählung innert knapp einer halben Stunde wie aus einem Guss aufs Papier (genauer: auf die karierten Blätter eines Notizblocks mit grünem Umschlag) zu kritzeln. Er hatte das Präsens gewählt und stellte das Geschehen aus der Sicht der Hauptfigur dar, in der ersten Person.  Nach einem Spaziergang dem Fluss entlang und anschliessendem Imbiss in einem anderen Boulevardcafé las er seinen Text noch einmal und begann sich mit der Idee zu quälen, sich als Autor nicht nur von der darzustellenden Hauptfigur, also sozusagen von Klaus Stäubli, distanzieren zu müssen, sondern auch zeitlich von der darzustellenden Geschichte. So begann er am selben Nachmittag einen zweiten Text zu verfassen, indem er nun das Imperfekt und für die Hauptfigur die dritte Person verwendete. Diese neue Variante überzeugte ihn auch noch drei Tage später, nachdem er sie nochmals mit dem ersten Text verglichen hatte, und deshalb tippte er sie einigermassen zufrieden in seinen Computer. Er speicherte sie und erstellte einen Abdruck, um ihn Stäubli abends in die Bar zu bringen.

Auf dem Weg dorthin las er seinen Text ein weiteres Mal, und er war auf einmal wieder unsicher, ob er Stäublis Erwartungen entspreche. Er meinte Unzulänglichkeiten zu entdecken, er erschien ihm stilistisch unheinheitlich, und er empfand das Bedürfnis, ihn neu zu konzipieren. Die erste Fassung, die er nicht in den Computer getippt hatte, schien ihm frischer, lebendiger. Er bedauerte, sie nicht ebenfalls abgeschrieben und ausgedruckt zu haben; er hätte sie Stäubli als Alternative vorlegen können. Solche Überlegungen waren jetzt freilich zu spät, denn in wenigen Minuten würde er die Bar betreten, wo sein Auftraggeber und wahrscheinlich einziger Leser sicher schon ungeduldig wartete, und er würde, ähnlich wie ein Aufsatzschreiber in der Schule der Note des Lehrers, seinem Urteil entgegenbangen… Die Absurdität seiner eingebildeten Ängste war ihm bewusst, und er beschloss, den komischen Aspekt seines selbstgewählten Risikos auszukosten.

Als er das Lokal endlich betrat, konnte er Stäubli nicht sofort sehen. Dieser sass nicht wie das letzte Mal an der Bar, sondern hatte sich auf einer Holzbank in einer Nische an einem kleinen Tisch niedergelassen, ein gewissermassen geschützter Platz, den er für die vorgesehene Lektüre wohl für geeigneter hielt. Kaum hatte er den Journalisten erblickt, grüsste er mit einer diskreten Handbewegung und setzte sich sogleich eine Lesebrille auf die Nase, die er offenbar schon bereitgelegt hatte. Hofer liess sein Glas füllen und stiess gemächlich an, ohne vorerst auf Stäublis spürbare Ungeduld einzugehen. Um eine möglichst lockere Stimmung besorgt, plauderte der Journalist Minuten lang von Belanglosem, das er im Verlauf der letzten Tage während seiner Arbeit erlebt hatte. In Stäublis erwartungsvollen Miene schienen sich Züge der Enttäuschung, ja vorwurfsvoller Entbehrung abzuzeichnen. Daher beeilte sich Hofer nun doch, sein Gegenüber nicht länger auf die Folter zu spannen. Er öffnete sein Ledertäschchen und zog den Computerausdruck hervor, den er ihm neben das Weinglas schob. Stäublis Miene heiterte sich auf. „Du hast es also doch geschafft“, frohlockte er, „ich hatte ehrlich gesagt schon befürchtet, du wärst nicht dazugekommen, bei all deinem journalistischen Stress, nicht wahr!“ – „Versprochen ist versprochen“, sagte Hofer und erhob sich; „entschuldigung, ich muss mal pinkeln gehen.“ Er entfernte sich Richtung Pissoir, obwohl er keinen Harndrang verspürte, aber er suchte nach einer Gelegenheit, Stäubli ungestört lesen zu lassen. Er wollte nicht Zeuge seines etwaigen Stirnrunzelns oder verbalen Nörgelns während des Lesens sein. Allfällige Kritik sollte er anschliessend anbringen. Hofer strebte also Richtung Abort- und Telefontüre, begrüsste unterwegs zwei Medienkollegen, die hier allabendlich sassen, wählte am CD-Automaten ein halbes Dutzend Stücke mit eher sanften Backgroundmusik, die, so dachte er, Stäubli beim Lesen milde stimmen könnten und verkroch sich während einiger Minuten hinter der ominösen Tür. Als er zurückkehrte, schien Stäubli den Text zu kennen. Der Computerausdruck lag jedenfalls sorgfältig zusammengefaltet auf der Bank, Klaus Stäubli schaute unverschämt zufrieden, ja beinahe verklärt, und er hatte bereits eine neue Flasche Wein bestellt und serviert bekommen. Als ihn ein junges Paar fragte, ob zwei Plätze am Tisch noch frei seien, gab er redselig Auskunft; er sässe hier zusammen mit einem Bekannten, der sei gerade auf der Toilette gewesen und käme nun eben zurück.

„Nehmt nur Platz. Wir können zusammenrücken“, meinte Hofer munter. Die beiden neuen Gäste kuschelten sich hinter den Tisch.

„Hat es dir gefallen?“ fragte Hofer überflüssigerweise und deutete auf das Papier auf der Bank. Stäubli nickte dankbar, setzte eine feierliche Miene auf. „Oh, sehr! Ich bin beeindruckt. Hintergründig, um nicht zu sagen abgründig, ein wenig ironisch, aber nicht zynisch, eher melancholisch. Pfiffig, wie du die Pointe herausgearbeitet hast. Das ist für mich ein ganz wertvolles Geschenk! Wie schon gesagt, ich würde deine Arbeit gerne bezahlen. Darüber können wir ja noch einmal reden, nicht wahr. Mir gefällt die Geschichte.“ – „Es ist deine Geschichte, du bist die Hauptfigur. Und gleichzeitig mein Auftraggeber“, ergänzte Hofer. „Auf ein Honorar verzichte ich, das weißt du, das haben wir doch schon besprochen. Könntest du sie mir nochmals geben? Ich möchte sie noch einmal lesen. Mit diesem fetten Lob im Ohr liest sie sich bestimmt anders!“ Hofer begann, sich (einmal mehr) auf seinen Text, auf Stäublis Geschichte zu konzentrieren. Nach der Lektüre lehnte er sich entspannt zurück. Zum erstenmal hatte ihn der Aufsatz befriedigt. Es störte ihn nicht mehr, dass ihm beim Lesen Verbesserungen einfielen, brillantere Formulierungen, stilistische Möglichkeiten, den Text leichter wirken zu lassen. Ich habe ihm seine Geschichte, einen Ausschnitt seiner Geschichte geliefert, ihm zu einer Bedeutung verholfen, die ihm bisher in seiner ameisenhaften Büroexistenz (wie er es angedeutet hatte) offenbar gefehlt hat, dachte Hofer.  „Nehmt ihr noch was?“ meldete sich nun Ursulina, die Serviererin (die eigentlich Germanistik studierte, wie Hofer wusste, und mit dem Job in der Bar ihr Studiengeld aufbesserte). Stäubli, in prächtiger Spendierlaune, bestellte die dritte Flasche Wein. „Du hast mir zur Individualität verholfen“, behauptete nun Klaus, „mir eine Identität geschenkt!“ – „Übertreibe nicht“, wehrte Hofer ab, „du hattest doch schon vorher eine Identität! Während unserer ersten Begegnung hier hast du mir von deiner Mutter erzählt. Was ist mit deinem Vater?“ – „Mein Vater kommt aus einer Patrizierfamilie, ein Aristokrat“, antwortete Stäubli; „ich war der uneheliche Sohn der Putzfrau dieser Familie. Mein Vater hat sich nie um mich gekümmert. Er war damals wohl noch zu jung, unreif, ein Pubertierender.“ – „Und seine Familie?“ insistierte Hofer. „Die Eltern meines Vaters ignorierten das Problem. Es war ihnen wahrscheinlich peinlich. Meine Mutter war natürlich keine standesgemässe Geliebte ihres Sprösslings! Aber vielleicht wusste man gar nicht, dass ich der Kegel ihres Sohnes war“, sinnierte Stäubli bitter.  – „Sehr aristokratisch, ich meine edel verhielt sich dein Vater dir gegenüber also nicht“ spöttelte Hofer. – „Auch nicht gegenüber meiner Mutter“, bekräftigte Stäubli; „mein Vater war kein Gentleman, er liess sie mit ihrem unehelichen Kind im Stich. Und täusch’ dich nicht! Die hiesigen Patrizierfamilien sind nicht gerade bekannt für Grosszügigkeit in solchen Dingen. Eher für Knausrigkeit. Und Diskretion. Über Geldprobleme redet man nicht. Man spricht auch nicht über uneheliche Kinder. Die existieren ganz einfach nicht.“ – „Hast du später nie versucht, mit deinem Vater Kontakt aufzunehmen?“ – „Ich weiss, wer er ist“, beteuerte Stäubli; „er heisst natürlich nicht Stäubli. Ich habe ihm erst jetzt einen Brief geschrieben, erst vorgestern, zum erstenmal; ich habe zufällig erfahren, er sei schwer krank. Er lebt  in einem Sanatorium. Vielleicht gehe ich ihn dort einmal besuchen. Ich habe den Brief noch nicht abgeschickt. Aber ich werde es tun. Vielleicht schon morgen.“ – „Vielleicht gibt es etwas zu erben für dich?“ schmunzelte Hofer.

Auf diese Anzüglichkeit verweigerte Stäubli eine Antwort. Er sah auf einmal unruhig auf die Uhr und verabschiedete sich plötzlich wortkarg.  Hofer war unsicher, wie er den abrupten Weggang seines Schulkameraden deuten sollte; hatte er ihn mit seiner unbedachten Bemerkung verstimmt? Wie passte dieser schroffe Abschied zu den vorher geäusserten überschwänglichen Dankesbekundungen?

Enttäuscht und aufgeschreckt interpretierte Hofer Stäublis unerwartetes Verhalten als alarmierenden Vertrauensbruch, und es drängte ihn nun ebenfalls, zu zahlen. Nachdem er die Bar verlassen hatte, bemerkte er erstaunt, wie hell es draussen noch war. Der linde Sommerabend verlockte zum Flanieren; vor allem junge Menschen strömten in Gruppen über den Boulevard, und nur mit Mühe konnte Hofer Stäubli erkennen, wie dieser sich scheinbar ziellos durch die Menge wand, schliesslich den die Stadt teilenden Fluss überquerte, ohne die sich anbietende Aussicht auf den breiten Wasserstrom mit den aneinandergereihten mittelalterlichen Häusern am Ufer zu beachten, die in den aufsteigenden Schatten zu versinken schienen. Auf der Brücke hätte er ihn beinah’ aus den Augen verloren, da sich dem Journalisten ein ihm zufällig entgegenschreitender, von Parteikollegen umringter Grossrat in den Weg stellte, der mit ihm über eine in der Zeitung geäusserte Kritik, mit der der Politiker offenbar nicht einverstanden war, diskutieren wollte. Hofer konnte sich der Umzingelung mit dem glaubwürdigen Hinweis auf seine unaufschiebbare Eile entwinden, und es gelang ihm gerade noch, zu beobachten, wie Stäubli aus der Hauptverkehrsader in eine Seitengasse einbog, die in eine verwinkelte Altstadtgegend führte.

Der Glanz des Abendlichtes, der Hofer noch während des Gangs über die Brücke berauscht hatte, war in der engen Gasse vollständig erloschen, durch die Stäublis gedrungene Gestalt nun geisterte. Da war die Nacht schon hereingebrochen, und vor einem düsteren Haus sah man eine Ansammlung zumeist junger Männer und Frauen, darunter Jugendliche mit traurigen, bleichen Kindergesichtern, in verwahrlosten Kleidern. Klaus wich den Drogenkranken nicht aus, blieb, als er sich mitten unter ihnen befand, stehen, beugte sich zu einer auf dem Boden sitzenden jungen Frau nieder und sprach mit ihr. Hofer stand vor dem matt beleuchteten Schaufenster eines Trödlerladens und beobachtete den für ihn immer noch rätselhaften Vorgang aus einiger Distanz. Klaus beachtete ihn nicht. Schliesslich sah er, wie Stäubli mit der linken Hand übers Haar der Drogensüchtigen strich, sich aufrichtete und seinen Gang fortsetzte. Er taumelte nun durch eine noch engere Gasse zum Uferweg hinunter. Dort liess er sich auf einer der Bänke nieder, wo tagsüber bei schönem Wetter manchmal Rentner und Liebespaare sassen, und er schien nun unverwandt auf den inzwischen eingedunkelten Strom zu starren.

Hofer überlegte, ob er sich zu ihm gesellen sollte, um die Gelegenheit zu nützen, den so seltsam unterbrochenen Kontakt wieder aufzunehmen. Er näherte sich ihm von hinten, in der Absicht, ihn vorsichtig anzusprechen; aber nun hörte er zu seiner Überraschung, dass Stäubli weinte. Es schien ihm angemessener, ihn in seiner Einsamkeit doch nicht zu stören; behutsam wich er zurück, dabei hörte er, wie das Schluchzen verstummte. Nun beobachtete er, wie sich Stäubli erhob, zielstrebig zur Treppe ging, lautlos wie ein Gespenst hinunterstieg und ohne zu zögern ins Wasser plumpste; nur ein kurzes Glucksen war zu vernehmen. Hofer begriff, dass er Zeuge eines Selbstmords wurde: sein Schulkamerad ertränkte sich! Noch erspähte er eine kurze Weile den Kopf im Wasser, bis auch der ganz untertauchte, einfach verschwand. Stäublis Existenz, von Hofer sorgsam registriert, war ausgelöscht – die wiedergefundene Identität zerstört.

Ungläubig starrte Hofer auf den dunklen Strom, dessen Oberfläche die Abendlichter reflektierte. Hierauf ging er energisch, beinahe zornig dem Ufer entlang unter den Brücken vorbei und begann eine lange stumme Wanderung durch die Nacht.

Schwelle zum Paradies

Von Felix Feigenwinter

Er schien ihm zu schrill, ein wichtigtuerischer Egozentriker zu sein,  als dass er sich mit ihm  hätte anfreunden wollen. Vogel hatte, wie Lichtenhahn wusste, Kunstgeschichte studiert, bevor er sein Milllionenerbe angetreten war, das er nun schamlos verschwendete  – entgegen den Gewohnheiten der Bürger aus den alteingesessenen reichen Familien, die ihren Besitz mit äusserster Diskretion und puritanischer Sparsamkeit verwalteten. Vogel war ein Zugezogener, kein Bürger dieser Stadt, noch nicht; aber fast täglich erschien sein Name in der Klatschspalte einer Regionalzeitung; er war eine schillernde Figur, über die getuschelt wurde.

Vogel sei für ihn nur aus der Distanz geniessbar, hatte Lichtenhahn einem anderen  Gast im Restaurant Kunsthalle anvertraut, wo er manchmal  abends ein Weinchen genoss. Und lange Zeit schien es, als ob die Abneigung gegenseitig sei. Vogel, der fast täglich in der Kunsthalle auftauchte, um irgendwelche unternehmungslustige Leute zu treffen und zu einer Vernissage, einer Theaterpremiere, einem Konzert, einer Party oder weiss der Kuckuck wohin auszuschwärmen, schien dem Bibliothekar auszuweichen, wohl eher instinktiv als bewusst.  Als euophorischer Kommunikator schien er keine Hemmungen zu kennen. Doch Lichtenhahn hatte er, ganz zu dessen Zufriedenheit, bisher in Ruhe gelassen.

Das änderte sich an einem Sommerabend, als Lichtenhahn gleich nach der Arbeit die Kunsthalle aufsuchte, um dort zu Abend zu essen, weil er anschliessend in einem nahen Kino einen  Film ansehen wollte. Es war ein Montagabend, noch früh, im Restaurant sassen nur wenige Gäste, und als Lichtenhahn, der soeben den Tageslunch und ein Weinchen bestellt hatte, Gaudenz Vogel allein ins Lokal hereinstürmen sah, war ihm unbehaglich zumute. Es geschah, was er befürchtete: Der Neuankömmling steuerte, nachdem er vorerst offenbar ergebnislos die Tische nach ihm vertrauten Gästen abgesucht hatte, unverhohlen auf Lichtenhahn zu, setzte sich, ohne sich zu erkundigen, ob ihm seine Anwesenheit angenehm sei, wie ein altbekannter Kumpel zu ihm und rief dem Kellner, der dem Stammgast beflissen entgegeneilte, gut gelaunt seine Bestellung entgegen.

Vogel, der sich, wie der Bibliothekar wusste, auch als Kunstmäzen verstand, schwafelte allerlei, und er erzählte Lichtenhahn, der am Tageslunch  herumkaute, er habe gestern zwanzig Bilder von einem von ihm entdeckten Künstler namens Schmid gekauft.

„Von Schmidt-Rottluff?“ fragte der immer noch aufs Essen konzentrierte Lichtenhahn scheinheilig, damit er auch etwas zur Unterhaltung beitragen konnte.

„Nein, natürlich nicht!“ ereiferte sich Vogel, „doch nicht von diesem längst verblichenen deutschen Expressionisten! Nein, mein Schmid ist ein zeitgenössischer Schweizer Maler!  Ein Neuer! Ein Naturtalent, ein Genie!“

Lichtenhahn kannte einen Illustrator Schmid, der vor vielen Jahren die Informationstafeln im Zoologischen Garten mit Tierzeichnungen versah. Aber er nahm nicht an, dass sich Vogel Tierbilder von diesem Schmid angeeignet hatte und meinte deshalb ein wenig verärgert:

„Wie heisst er denn, Schmid… wie ist sein Vorname?“

„Isidor Schmid“ erklärte Vogel salbungsvoll, „Isidor Schmid! Man muss sich diesen Namen merken. Ein ganz Junger noch, ein Maler mit Zukunft!“

Da Lichtenhahn nichts mehr sagte, sondern mit der Serviette über seinen Mund strich, da er das Essen beendet hatte und nach dem Kellner winkte, insistierte Vogel:

„Schmids Bilder sind in meiner Wohnung – die ist nur fünf Minuten von hier. Komm mit mir, ich zeig‘ sie dir. Du wirst staunen!“

Lichtenhahn ärgerte sich über Vogels Anmassung, ihn (ohne ihn genau zu kennen) selbstverständlich für einen Schmid-Liebhaber zu halten, auch über seine Unart, ihn ungefragt zu duzen (Lichtenhahn war entschlossen, Vogel weiterhin beharrlich zu siezen), aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass bis zur Kinovorstellung noch genügend Zeit blieb, um Vogels offenbar in der Nähe befindliche Wohnung aufzusuchen; vielleicht war es eine einzigartige Möglichkeit, die Höhle dieses legendären Salonlöwen zu besichtigen, wozu der Bibliothekar nun plötzlich doch Neugier verspürte.

So folgte er dem Kunstsammler etwas widerwillig, aber auch ein wenig abenteuerlich gestimmt, und geleitete ihn in dessen Heim, ein frisch restauriertes Jugendstilhaus, wo, wie er bald konstatierte, neben beachtlichen Originalgemälden vor allem aus dem Zwanzigsten Jahrhundert auch Lampen, Vasen und Möbelstücke verschiedener Stilrichtungen zu besichtigen waren. Zwei der frisch erworbenen Schmid-Bilder waren bereits aufgehängt, die restlichen standen in drei verschiedenen Räumen am Boden an die Wände gelehnt.

„Nun, was sagst du? Schau sie dir an! Habe ich übertrieben?“ triumphierte Vogel.

Lichtenhahn mochte seine Begeisterung nicht ohne weiteres teilen und meinte spröde:

„Ich möchte sie mir sorgfältig anschauen, sie in Ruhe auf mich wirken lassen.“

Vogel winkte ungeduldig ab und betrat eine Wendeltreppe; während er dort hochkletterte, rief er:

„Bediene dich! Meine Bar steht zu deiner Verfügung! Ich komme gleich wieder, ich möchte nur schnell eine Dusche nehmen. Ich fühle mich so abgekämpft, verschwitzt.“ Er verschwand oben auf der Treppe; bald hörte Lichtenhahn ein Wasserrauschen, schnupperte exotische Düfte. Nach einer Weile erschien Vogel nackt, nur flüchtig mit einem Badetuch bedeckt, wieder auf der Wendeltreppe, huschte am Bibliothekar vorbei.

„Hast du die Bilder  betrachtet? Dein Urteil?“ rief er aus dem Nebenraum, wo er sich offenbar neu einkleidete.

„Es sind kraftvolle, wilde Bilder“, antwortete Lichtenhahn.

„Wilde Bilder!“ wiederholte Vogel, „mit ungestümer Gestaltungskraft hingeworfen! Stell‘ dir vor, welches Potenzial in diesem jungen Maler steckt! Er wird noch Aufsehen erregen!“

Um sich dem Diktat seines Gastgebers ein wenig zu entziehen, verzog sich Lichtenhahn in eine Nische,  von wo aus er auf eine schmale, niedrige  Türe sah, wo ein kleines eingerahmtes Bild hing, eine Gruppierung von nackten Figuren – Menschchen, die sich zärtlich beizustehen schienen, eine seltsam berührende Darstellung, eine Kreidezeichnung, ausdrucksstark in ihrer magischen Wirkung, eigenwillig koloriert.  Links oben im Bild entzifferte Lichtenhahn eine Schrift, die das Werk betitelte: SCHWELLE ZUM PARADIES.

„Wo bist du denn?“, hörte er Vogel nun fragen, der neu eingekleidet den Raum betrat, „ach hier – suchst du das Klo?“

„Nein, ich betrachte dieses eigenartige Bildchen hier“, antwortete Lichtenhahn.

„Ach so, ja, das ist rätselhaft! Stell dir vor: Ich habe es auf dem Flohmarkt gekauft! Für wenig Geld.  Der Maler oder die Malerin ist unbekannt. SCHWELLE ZUM PARADIES! Geheimnisvoll. Für mich ein okkultes Kunstwerk…spirituell und erotisch zugleich. Scheinbar unspektakulär, aber es berührt mich tief. Und es ist Kunst!“

Lichtenhahn vertiefte sich weiter in das ihn fesselnde Bildchen, aber Vogel riss ihn aus der Andacht: Duftend und elegant trat er in einem lila und schwarzen Seidenkleid vor ihn und steckte sich einen grossen Goldring mit kunstvoller Fassung und einem funkelnden Rubin an den linken kleinen Finger; an seiner Brust hing ein kultisch wirkendes Amulett, eine archaische, nackte Frauenfigur.

„Und jetzt stürzen wir uns in die wilde Nacht!“ verkündete er, „du bist mein Gast!“

Als Lichtenhahn einen prüfenden Blick auf seine Uhr warf, gewahrte er zerknirscht, dass er den Beginn der Kinovorstellung bereits verpasst hatte. Ein wenig resigniert und mit unsicheren, gemischten Gefühlen folgte er dem Millionär, gespannt, wohin ihn dieser nun führen werde.

In einem als distinguiert geltenden Dancing, wo sie noch vor Einbruch der Dunkelheit einkehrten, mokierte sich Vogel über die an der eleganten Bar sich mit Animiermädchen vergnügenden Herren von offensichtlich gehobenem sozialem Status. „Geiles Konsumpack!“ zischte er zu Lichtenhahn, was diesen wunderte. Der Bibliothekar konnte sich nicht verkneifen, zu fragen, ob er sich nicht selber als „konsumgeil“ einschätzen müsste, da er mit Teresa, einer brasilianischen Striptease-Tänzerin,  eine Flasche Champagner kippte. Vogel verneinte energisch.

„Dich halte ich ohnehin nicht für konsumgeil“, erklärte er jovial. „Was mich betrifft, so spiele ich dieses Theater nur mit, um es ad absurdum zu führen. Ich inszeniere hier mein eigenes Stück. Ich suche die metaphysische Dimension! Komm, wechseln wir die Bühne…“

Auf dem Weg in einen anderen Stadtteil, wo sie bald ein verrauchtes Lokal betraten, in dem vorherrschend eher proletarisches Publikum zu verkehren schien, schwadronierte der sich zum Dandy entfaltende trunkene Kunsthistoriker über die Eigenheiten diverser Nachtlokale und ihrer Kundschaft.

„Was auffällt“, analysierte er trocken, „dass sich das Angebot käuflicher Erotik und Sexualität mittels Ware Frau durch alle sozialen Schichten unserer Gesellschaft zieht. Ob im noblen Dancing, wo die Erfolgreichen und Reichen verkehren, die den Striptease-Tanz als künstlerische Inszenierung erleben, die auftretenden Tänzerinnen aber handkehrum als gewöhnliche Prostituierte beanspruchen, oder im vulgären Tingeltangel – es dreht sich doch immer  um das Eine…“

Vogel beharrte darauf, anders zu sein als die anderen. Wie mit Teresa, der Brasilianerin im Nobeldancing, pflegte er auch mit dem thailändischen Mädchen, das ihn an der Bar in der verrauchten Striptease-Pinte mit ausschliesslich männlichen Gästen ansprach, zärtliche Kommunikation, was wiederum mit erheblichem Champagnerkonsum verbunden war. Vogel zelebrierte, nicht ohne Eitelkeit, einen Kult des Respekts, was in dieser Umgebung irritierte, wo ordinäre Sprüche und Gesten an der Tages- beziehungsweise Nachtordnung waren. Die hier arbeitenden Animiermädchen hatten sich offenbar längst damit abgefunden, von ihren „Mietern“ mit plumpen Beleidigungen verhöhnt und grob betatscht zu werden, so dass eine sich kultivierter gebärdende Figur besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Gaudenz Vogel  schien diese Rolle zu geniessen.

„Sie schöpfen Ihre Privilegien aus, Herr Vogel. Sie befriedigen Ihre Bedürfnisse, indem Sie schöne, arme Frauen kaufen“ stänkerte Lichtenhahn. „Würden diese jungen Frauen auf Sie eingehen, wenn Sie ein Mann ohne Geld wären? Doch wohl kaum!“

„Jetzt fehlt nur noch, dass du feststellst, ich sei ein skrupelloses kapitalistisches Schwein!“ erwiderte Vogel. Damit schien dieses Thema für ihn erledigt.

In der Spelunke, wohin sie nun weiter gingen, warteten afrikanische Frauen, die ihr Kommen mit lebhaftem Palaver kommentierten. Wie die Angehörigen einer Sippe von ihren Schwestern, Tanten und Müttern wurden die beiden Ankömmlinge unter Gezeter und Gelächter  mit Küssen und Umarmungen begrüsst. Vogel spendierte für alle Champagner, es wurde ein warmes Essen aufgetischt, an dessen Verzehr ausser Lichtenhahn, der keinen Hunger verspürte, sich alle beteiligten, es wurde wild getanzt (auch Lichtenhahn, bisher eher passiv, mischte sich unter die Tanzenden), und schliesslich hing Vogel an der entblössten Brust einer schwarzen Supermama; er war zum Säugling regrediert.

Der nächste Abstecher galt einem Lokal mit durchmischtem Publikum – man sah auch Frauen unter den Gästen – , wo Vogel von Damen aus der Karibik umschwärmt wurde; auch ihnen schien er als besonderer Gast bereits vertraut zu sein. „Der Priester, der Priester!“ hatte eines der Mädchen aufgeregt gerufen, und es wurde Lichtenhahn schnell klar, dass Vogel hier offenbar als selbsternannter Priester auftrat, der die Frauen feierlich segnete und eine kultische Schau abzog, an die er selbst zu glauben schien. Wieder strömte Champagner, und Vogel trank ihn feierlich wie aus einem Messkelch.

Als Lichtenhahn merkte, dass es den Millionär weitertrieb in die nächste Spelunke, dass er nicht zur Ruhe kam und wohl bis zum Morgengrauen ruhelos herumziehen würde, bis er vielleicht in einer Umarmung Befriedigung finden würde, beschloss er, sich zu verabschieden. Mitternacht war längst vorbei, Lichtenhahn hatte genug gesehen, er fühlte sich dösig und war nicht länger bereit, den dekadenten Geniesser länger zu begleiten bei dessen wahnhaften Herumtreiben.

Er verabschiedete sich gähnend, bedankte sich für die spendierten Getränke und die gebotenen Erlebnisse, und er schnappte sich ein Taxi, mit dem er zu seiner Wohnung fuhr.

Daheim, auf dem Bett liegend, vor dem Einschlummern, versuchte er kopfschüttelnd auszurechnen, wie viel Geld Vogel in den wenigen Stunden, während welchen sie zusammen waren, ausgegeben hatte und wie viel er diese Nacht noch verschleudern würde. Vogel war ein Alkoholiker, ein Suchtkranker, und falls er in diesem Stil weiterlebte, würde sein Ende bitter sein; sein baldiger gesundheitlicher Ruin würde nicht aufzuhalten sein, überlegte Lukas Lichtenhahn.

Es erstaunte ihn, dass ihn der verschwenderische Irre derart hatte manipulieren können, „denn eigentlich bin ich doch nicht labil“, sagte er laut vor sich hin. Nun würde er, so schätzte er, einen ganzen Tag und eine Nacht benötigen, um sich von dieser Ausschweifung erholen zu können. Er war gestern Abend wohl einfach unachtsam gewesen; ein zweites Mal würde ihn Vogel nicht mehr einspannen können, da war er sich sicher. Mit dieser Gewissheit versank Lichtenhahn in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

*

Wenige Tage später, es war Samstag, spazierte Lichtenhahn dem Rhein entlang, aufgewühlt nach der Lektüre eines Nekrologs in der Zeitung. Danach sei der Kunsthistoriker und Förderer begabter Nachwuchskünstler Gaudenz Vogel überraschend für seine  Familie und den weiten Freundeskreis  seinem überschäumend aktiven Leben jäh entrissen worden. Sein Tod bedeute im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt einen herben Verlust.

Noch gestern Abend war Lichtenhahn unter einem Gewölbe finsterer Gewitterwolken den Rhein hinuntergeschwommen. Am Ufer sammelten sich Einheimische und Durchreisende, die ein Stadtverein mit Getränken, gebratenen Fischen und volkstümlicher Musik zum Verweilen lockte. Diese sich auf einer kurzen Strecke des Rheinwegs Scharenden nahm er aus dem Fluss heraus kaum mehr wahr, ebenso wenig die Gebäudekulissen der Stadt und die Leute auf den Brücken, die ihm schattenhaft erschienen. In den unter dem wolkengeschwängerten Abendhimmel eingeschwärzten Fluten fühlte er sich im archaischen Element; das emsige, geordnete Menschentreiben am Rand des Wassers war schon weit weg.

Heute gleiten die Wellen noch lebhafter als gestern Abend. Früher dachte Lichtenhahn, wegen der Biegung, die er beim Durchqueren der Stadt bildet, würde der Strom in seiner Wildheit gehemmt. Dieser Eindruck hat sich längst verflüchtigt. Seit sich Lichtenhahn selber in die Fluten stürzt, weiss er, dass die Stadt zwar fast alles Ungestüme, das sich in sie verirrt, zu bändigen, ja nicht selten zu vernichten oder mindestens auszuscheiden versteht – dem Strom dagegen ist sie nicht wirklich gewachsen. Sie ist ja auch viel jünger als er, und er würde sie vielleicht überleben. Manchmal denkt Lichtenhahn, er habe sie bereits überlebt , so sehr erscheint ihm die Stadt zuweilen museal, ausgetrocknet, ein Mausoleum.

Das nächtliche Gewitter hat die Hitze vertrieben; erst am späten Morgen lichtete sich die Wolkendecke. Jetzt ist es noch seltsam kühl für einen Sommertag. Lichtenhahn sinniert über die Begegnung von gestern Abend an der Tramstation,  wo er nach seinem Rheinschwimmen gewartet hatte, um heimzufahren. Eine dunkelhäutige Frau ging, mit einer Perücke auf dem Kopf, durch die dicht bevölkerte Abendstrasse. An der Tramhaltestelle blieb sie stehen, beglotzt von anderen Wartenden, bis die Gaffer wegen des hereinbrechenden Gewitters auseinanderstoben. Lichtenhahn erkannte Teresa, die Brasilianerin, die ihm Gaudenz Vogel im Nachtlokal vorgestellt hatte. Gestern Abend hatte er von Vogels Tod noch nichts gewusst; er wagte die Frau nicht anzusprechen.

Aber nun ist  Samstagnachmittag, Lichtenhahn hat aus der Zeitung  erfahren, Vogel sei gestorben. Sein Blick  fällt auf eine Figur, die ihm auffällt, weil sie sich von den anderen Menschen durch eine natürliche Grazie abhebt, die hier exotisch wirkt. Die junge Dame sitzt  unten an der Uferböschung, offensichtlich allein zwischen anderen jungen Leuten:  Teresa, die Brasilianerin, diesmal ohne Perücke, ungeschminkt, in Freizeitbekleidung… Gestern noch sah er sie an der Tramhaltestelle, und am letzten Montagabend hatte er mit ihr und dem inzwischen verstorbenen Paradies-Vogel mit Champagner angestossen. Minuten lang starrt Lichtenhahn auf diese anmutige Gestalt, auf eine lichte dunkle Göttin, deren Nacktfoto hinter einer Glasscheibe neben dem Eingang zum Nachtlokal Kundschaft anlockt.

Nach einer Weile gebannter Betrachtung klettert  Lichtenhahn hinunter zum Fährsteg, besteigt die Fähre und schaukelt ungestüm im reissenden Wasserstrom bei hohem Wellengang auf die andere Seite des Rheins, wo sich das mittelalterliche Münster mit seinen   zierlichen gotischen  Turmspitzen erhebt, die über dem glitzernden Chorgiebel im Gegenlicht der aus einem Wolkenloch strahlenden Sonne wie Scherenschnitte in den Himmel ragen. Den Münsterberg hinauf keucht er über die  Steintreppe. Auf der Pfalz eilt er in brennendem Verlangen zum Fernsichtautomaten, wo er ein Geldstück in den Schlitz wirft, auf den Münzstift drückt und durchs Fernrohr das gegenüber liegende Ufer absucht.

Da sieht er sie wieder, aus der Ferne vergrössert, scheinbar unmittelbar vor ihm sitzend, diese graziöse Erscheinung  – eine Sonnenpflanze.  Lichtenhahn beobachtet, wie zwei badehosenbekleidete Typen, kränkelnde Bleichgesichter, an der exotischen Schönheit vorbeischleichen, mit Faxen Aufmerksamkeit erheischen. Sie scheint sie nicht zu beachten, sieht an ihnen vorbei aufs Wasser, blickt hinauf zum Münsterhügel, zu Lichtenhahn. Ob sie ihn sehen kann? Kaum. Sehen vielleicht, doch, das ist möglich. Aber erkennen? Nein!

Das Bild verschwindet. Lichtenhahn sucht vergeblich nach einem Einfrankenstück. Die Zeit ist abgelaufen.

Als er sich umblickt, sieht er, dass er, am Fernrohr stehend, von einer japanischen Touristengruppe als Fotosujet benützt wird; eine Reihe von Fotoapparaten ist auf ihn gerichtet.  Lichtenhahn winkt verlegen ab, was die Touristen für ein Grüssen zu halten scheinen, wie er aus deren  Verbeugungen schliesst. Er entzieht sich der neugierigen Schar, überquert im Schatten der Kastanienbäume die Pfalz Richtung Münsterplatz, will am ältesten, romanischen Teil der Kathedrale  vorbeigehen, aber bleibt vor der Galluspforte stehen, wo  Sandsteinfiguren über der Pforte unter dem grossen Glücksrad seit Jahrhunderten den sterblichen Blicken standhalten. Verblüfft stellt er fest:  diese Figuren ähneln den nackten Menschchen auf dem geheimnisvollen kleinen Gemälde in Vogels Wohnung: SCHWELLE ZUM PARADIES! Irritiert kehrt er zur Pfalz zurück, sucht den Kreuzgang auf, der für ihn seit seiner Kindheit ein Refugium bedeutet. Hierhin hatten ihn seine Eltern immer wieder geführt, ein kultischer Ausflugsort, Ziel mancher Sonntagsspaziergänge auf den Münsterhügel: Die hoch an der Wand thronende Tafel mit den Namen seiner verstorbenen Ahnen, und darüber das Sippenwappen: ein Hahn, der zwei Fackeln im Schnabel trägt. Wie hatte er sich in all den Jahren an dieses Bild gewöhnt! Aber heute erscheint ihm das Signet zum erstenmal trügerisch, fast lächerlich in seiner eitlen Symbolik; den Hahn hält er für eine falsche Interpretation des Familiennamens, der früher  Liechtenhayn hiess –  mit einem Gockel hat das doch nichts zu tun.

Lichtenhahn drängt es zurück zur Galluspforte. Nun steht er wieder vor der verschlossenen Doppeltür, liest die Verheissung: ICH BIN DIE THUER SO JEMAND DURCH MICH EINGEHET DER WIRD SELIG WERDEN, und wieder staunt er über die Aehnlichkeit der Skulpturen aus dem tiefen Mittelalter über dem Torbogen, der sich enthüllenden oder schon nackten Auferstehenden, die auf zwei Mäuerchen hocken, flankiert von Engeln des Jüngsten Gerichts,  mit den  Figuren auf dem  Bildchen SCHWELLE ZUM PARADIES. Wie gerne hätte er diese von Vogel als „okkult“ bezeichnete Kreidezeichnung noch einmal im Original genau betrachtet – und mit den Darstellungen hier verglichen.

Aber das ist nun  nicht mehr möglich; das Haus des Toten bleibt  ihm verschlossen.

Das Bild verschwimmt in der Erinnerung.

 

WEITERE GESCHICHTEN:

Felix Feigenwinter   Geschichten von Sonderlingen http://feigenwinter.wordpress.com

Felix Feigenwinter   Skurrile Geschichten http://feigenwintergeschichten.wordpress.com

Felix Feigenwinter   Kriminalgeschichten http://feigenwinterkriminalstories.wordpress.com